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Wir wollen DEINE Lieblings-Bühne sein   - Laniers provozierende These vom "digitalen Maoismus"

Siehe dazu auch das Interview mit Lanier auf sueddeutsche.de vom 24. Januar 2010

Kollektivismus im Internet, Weisheit der Massen, Fortschritt der Communities? Alles Trugschlüsse.

Von Jaron Lanier

In den frühen neunziger Jahren gehörte der Autor des folgenden Textes, der Computerwissenschaftler und Musiker Jaron Lanier, zu den Visionären einer digitalen Kultur. Er unterrichtete Computerwissenschaften an der Columbia University, in Yale und an der New York University. Ende der Neunziger leitete er den Aufbau des akademischen Internet 2. Als Musiker arbeitete Lanier unter anderem mit Philip Glass, Ornette Coleman und George Clinton. Den Essay "Digital Maoism" verfasste Lanier für die Serie "Original Edge Essays" des Onlineforums www.edge.org. Dort löste der Text eine heftige Debatte über die kulturellen Qualitäten des Internets aus, in die sich die Wikipediagründer Larry Sanger und Jimmy Wales, die Computerforscherin Esther Dyson und der Medientheoretiker Douglas Rushkoff eingeschaltet haben.

Wer meinen Namen im kollektiv verfassten Onlinelexikon Wikipedia nachschlägt, erfährt, dass ich Filmregisseur bin. Ich habe zwar vor gut 15 Jahren einen Experimentalfilm gedreht, der allerdings nur ein einziges Mal auf einem Festival gezeigt wurde, und es ist mir ganz recht, dass man ihn wahrscheinlich niemals wieder sehen wird. Jedes Mal wenn mein Wikipedia-Eintrag korrigiert wird, verwandele ich mich allerdings innerhalb kürzester Zeit wieder in einen Filmregisseur. In den vergangenen Wochen haben mich gleich zwei Reporter zu meiner Karriere als Filmemacher befragt.

Nun gibt es Schlimmeres, und ich habe mit Wikipedia auch kein Problem. Es stellt lediglich ein Experiment dar, das sich enorm verändern und entwickeln kann. Das Problem ist vielmehr, wie wichtig und ernst Wikipedia nach kurzer Zeit genommen wurde. Das ist ein Beleg für den Siegeszug eines Online-Kollektivismus, der nichts anderes bedeutet, als die Wiederauferstehung der Idee, dass das Kollektiv über eine allwissende Weisheit verfügt, die man zentral bündeln und lenken muss. Dies ist das Gegenteil von Demokratie und Meritokratie. Wenn die extreme Rechte oder die extreme Linke in der Vergangenheit versucht hat, uns diese Idee aufzuzwingen, hatte das jedes Mal grausame Konsequenzen. Dass uns heute prominente Technologen und Futuristen diese Idee nahe bringen wollen, macht sie nicht ungefährlicher.

Eine Grundüberzeugung der Wikiwelt ist es, dass im Verlauf des kollektiven kreativen Prozesses jedes nur erdenkliche Problem, das im Wiki auftaucht, Stück für Stück korrigiert werden wird. Das entspricht dem unumstößlichen Vertrauen, das Ultraliberale in die Unfehlbarkeit des Marktes und Ultralinke in die Gerechtigkeit von Konsensprozessen haben. In all diesen Fällen waren die Ergebnisse bisher eher fragwürdig. Dazu kommt, dass Faktentreue allein noch keinen guten Text ausmacht. Ein Text muss mehr sein als eine Ansammlung fehlerfreier Referenzen, und zwar Ausdruck von Persönlichkeit.

Die meisten technischen oder wissenschaftlichen Informationen, die man in der Wikipedia findet, gab es schon im Netz, bevor Wikipedia erfunden wurde. Mit Hilfe einer Suchmaschine bekam man zu den meisten Begriffen, die nun wikifiziert wurden, hinreichende Auskünfte. In einigen Fällen wurden bestimmte Texte einfach von den Seiten der Universitäten und Institute geklont und auf Wikipediaseiten gestellt. Seitdem die meisten Suchmaschinen eher zur wikifizierten Version als zum Original führen, hat das Web einiges an Charakter verloren.
Nun ist Wikipedia keinesfalls der einzige Fetisch für diesen stumpfen Kollektivismus. Im Internet gibt es einen rasenden Wettkampf um die Position der ultimativen ¸¸Meta"-Seite. Jeder will das allerhöchste aller Aggregate sein, dem sich sämtliche andere Seiten unterordnen müssen. Dieser Wettkampf begann ganz unschuldig mit dem Aufbau von Onlineverzeichnissen, etwa den frühen Formen von Yahoo oder Altavista. Bald darauf kam Google mit seinem Algorithmus für die Rangfolge dazu, dann die Blogs und schließlich die Metablogs, wie Boinboing, deren Inhalt ganz einfach aus dem Destillat anderer Blogs besteht. Für alle diese Seiten trugen allerdings einer oder mehrere Einzelne die Verantwortung.

In den vergangenen ein, zwei Jahren ging der Trend dahin, jede Spur menschlicher Einflussnahme zu entfernen und den Eindruck entstehen zu lassen, dass die Inhalte aus dem Netz selbst kommen, als spräche das Web wie ein überirdisches Orakel zu uns. Das ist der Punkt, an dem die Nutzung des Internets in den Wahnsinn abgleitet. Kevin Kelly, Gründer der Zeitschrift Wired, der die Webseite ¸¸Cool Tools" betreibt, hat lange über das nachgedacht, was er den ¸¸Hive Mind" nennt, den Schwarmgeist. Neulich besprach Kelly einige ¸¸Konsenswebfilter" wie ¸¸Digg", ¸¸Reddit" und ¸¸Popurl", die täglich Material aus einer Unzahl anderer Seiten zusammenstellen. Da gibt es keine Person mehr, die das Material auswählt, nur einen Algorithmus.

Wie gut diese Seiten sind? Während ich diesen Text schreibe, wurde ein neues Verfahren gefunden, das Nervenschäden bei Diabetikern verhindert und somit Millionen helfen kann. Die meisten traditionellen Nachrichtenmedien berichteten gleichzeitig über das Erdbeben in Indonesien. Popurl informiert uns dagegen darüber, dass ein Student den Rekord im simultanen Eisessen gebrochen und dabei einen rekordverdächtigen Kältekopfschmerz bekam.

Kevin Kelly kommt zu dem Schluss, dass solche Seiten die beste Methode sind, um den Schwarmgeist zu beobachten, der fast immer dumm und langweilig ist. Der wahre Wert des Internets besteht darin, dass es Menschen miteinander verbindet. Wenn wir anfangen zu glauben, dass das Netz ein eigenständiges Wesen darstellt, reduzieren wir diese Menschen zur Wertlosigkeit und uns selbst zu Idioten. Erschwerend kommt hinzu, dass es für Menschen, die schreiben und denken, keine neuen Geschäftsmodelle gibt. Zeitungen befinden sich beispielsweise in einer Phase des Niedergangs, während das Internet immer mehr Leser an sich bindet. In diesem Umfeld kann Google News derzeit mehr Umsatz verbuchen und zuversichtlicher in die Zukunft blicken als die relativ geringe Anzahl guter Reporter, die rund um die Welt den Großteil der Inhalte produzieren. So generiert das Aggregat mehr Wert als die Originale. Die Frage nach neuen Geschäftsmodellen für Inhaltsproduzenten ist ein schwieriges Thema, aber man sollte zumindest erwähnen, dass professionelles Schreiben Zeit braucht und dass die meisten Autoren dafür bezahlt werden müssen, dass sie sich diese Zeit nehmen. In diesem Zusammenhang kann man das Bloggen nicht als Schreiben gelten lassen. Als Blogger reicht es, dass man den Massen nach dem Mund redet oder Aufmerksamkeit erregt, indem man sie beschimpft.

Was wir jetzt beobachten können, ist eine beängstigende Ausbreitung des Trugschlusses, das Kollektiv sei unfehlbar. Davon bleiben nicht einmal Eliteorganisationen verschont. Der Aufstieg der Wikipedia, der Reichtum von Google und das Wettrennen zur ultimativen Metaseite haben zu einem Goldrausch geführt, von dem schon Regierungsstellen, Universitäten und die Planungsabteilungen von Top-Firmen angesteckt wurden.

Es ist gut zu verstehen, was den Trugschluss des Kollektivismus für große Organisationen so attraktiv macht: Wenn es ein unfehlbares Grundprinzip gibt, müssen die Einzelnen keine Risiken eingehen und keine Verantwortung übernehmen. Das passt zu den enormen Unsicherheiten und der geradezu pathologischen Angst vor Verantwortung in unserer Zeit. Gleichzeitig müssen wir in Institutionen funktionieren, die keiner Führungskraft mehr verpflichtet sind. Jeder Einzelne, der Angst davor hat, innerhalb seiner Organisation das Falsche zu sagen, kann sich deswegen immer auf der sicheren Seite wähnen, solange er sich hinter einem Wiki oder ähnlichen Ritualen von Meta-Aggregaten verstecken kann.
Nun ist das Kollektiv nicht von Natur aus dumm. Weil die Höhe- und Tiefpunkte seiner Intelligenz nicht die gleichen sind wie bei Individuen, kann es sogar sehr wertvoll sein. Wenn man beispielsweise einen Kurswert bestimmen soll, wird das Ergebnis, das ein Regierungsbeamter festlegt, dem Schluss, zu dem ein gut informiertes, unabhängiges Kollektiv kommt, immer unterlegen sein. Das gilt natürlich nicht unbegrenzt, wie uns Tulpenwahn, Dotcomblase und Y2K-Hysterie gezeigt haben.

Die entscheidende Frage ist allerdings, in welchen Punkten man als Einzelner klüger ist als das Kollektiv. Im Schnelldurchlauf würde ich die Grenze zwischen effektivem Kollektivdenken und Schwachsinn wie folgt definieren: Das Kollektiv kann immer dann Klugheit beweisen, wenn es nicht die eigenen Fragestellungen definiert; wenn die Wertigkeit einer Frage mit einem schlichten Endergebnis, wie einem Zahlenwert festgelegt werden kann; und wenn das Informationssystem, welches das Kollektiv mit Fakten versorgt, einem System der Qualitätskontrolle unterliegt, das sich in einem hohen Maße auf Individuen stützt. Wenn nur eine dieser Vorgaben wegfällt, wird das Kollektiv unzuverlässig. Ein Individuum entwickelt dagegen ein Höchstmaß an Dummheit, wenn es mit umfangreichen Machtfunktionen ausgestattet und gleichzeitig von den Folgen seiner Handlungen abgeschirmt wird.
In der Welt vor dem Internet fand man großartige Beispiele dafür, wie die Qualitätskontrolle von Einzelnen die Intelligenz des Kollektivs verbessern konnte. Zum Beispiel lieferte eine unabhängige Presse wichtige Nachrichten über Politiker von Reportern mit starken eigenen Stimmen. Andere Autoren berichteten über Produkte. In jedem Fall erlauben solche Journalisten dem Kollektiv, Wahl- oder Kaufentscheidungen auf der Basis solider Information zu treffen.

Ein Kollektiv auf Autopilot kann ein grausamer Idiot sein, wie uns die Ausbrüche maoistisch, faschistisch oder religiös geprägter Schwarmgeister immer wieder vorgeführt haben. Es gibt keinen Grund, warum solche gesellschaftlichen Katastrophen in Zukunft nicht auch unter dem Deckmantel technologischer Utopien passieren könnten. Sollten Wikis weiterhin an Einfluss gewinnen, sollte man sie durch jene Mechanismen verbessern, die auch schon in der Welt vor dem Internet recht gut funktioniert haben.

Die Illusion, dass das, was wir schon haben, gut genug ist, oder dass es lebendig ist und sich selbst richten wird, ist die gefährlichste aller Illusionen. Wenn wir solchen Blödsinn vermeiden, sollte es möglich sein, einen humanistischen und praktikablen Weg zu finden, um den Wert des Kollektivs im Web zu maximieren, ohne dass wir uns zu Idioten machen. Die beste Richtlinie dafür ist, dem Individuum den Vorrang zu geben.

Deutsch von Andrian Kreye
Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.136, Freitag, den 16. Juni 2006


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