Professor Hans Primas,
Referent in der Reihe "Montagsgespräche" der
Akademie zum dritten Jahrtausend.
Sein Thema:
"Die Überwindung
des Atomismus - der Ganzheitsbegriff
der Quantentheorie verändert unser Weltbild"
?Herr Primas, als Nicht-Physiker ist man immer
wieder
erstaunt, wie weit die Autorität der physikalischen
Welterklärung reicht. Woran liegt das? Und wie trägt
die Physik zur Erklärung der Welt bei?
Unter den Menschen ist - ganz gleich ob sie
gebildet oder ungebildet sind - die Meinung verbreitet, daß die
Physik eine besonders realistische Weltsicht habe. Das liegt
wohl daran, daß die Erfolge der Naturwissenschaften und
insbesondere der Physik dem Glauben Nahrung geben, daß
uns eine vollständige wissenschaftliche Eroberung der Natur
gelingen könne.
Die naturwissenschaftliche Methode mit ihrem
vorsichtigen und schrittweisen Absehen von
"Unwesentlichem", mit ihren Experimenten, ihrem
Materialismus erscheint als Garant von Funktionieren
und ist daher realistisch im Sinne von "richtig".
Das heißt aber nicht, daß naturwissenschaftliche
Methoden auch "wahr" sind. Naturwissenschaftliche
Erkenntnisse sind immer fest verwurzelt in unseren Ambitionen und in
unserer Kultur und Geschichte und den dazugehörenden
philosophischen Vor-Urteilen. Alle für die moderne
Naturwissenschaft grundlegenden Begriffe basieren auf
einer metaphysischen Lehre.
Diese Seite der Naturwissenschaft wird aber
meistens vergessen. Und so schleppt sie einen Wahrheitsanspruch mit sich,
ohne die Prämissen zu reflektieren.
?Ergibt sich aus der gesellschaftlichen Autorität
eine besondere Verantwortung für den Naturwissenschafter,
etwa wenn er zur Politikberatung herangezogen wird?
Er muß auf jeden Fall sagen, was er ausgeklammert
hat.
Seine reduktionistische Methode erlaubt es ihm, sich
auf ein beliebiges, für besonders bemerkenswert oder
wesentlich erachtetes Detail zu konzentrieren und dort eine
hohe
Voraussage-Sicherheit zu erzielen. Wenn er aber nicht dazusagt,
in welchem Kontext sich diese Abläufe bewegen,
dann führt er denjenigen, dem nur die Ergebnisse vorliegen,
in die Irre.
Der Politiker, der den Naturwissenschafter beauftragt, muß
also immer fragen:
"Worüber sprachen Sie nicht?
Was wissen Sie nicht?"
?Können Sie ein Beispiel dafür geben?
Gentechnologen behaupten zum Beispiel,
die Züchtung einer genmanipulierten virusresistenten Reissorte
sei im Kampf gegen den Hunger eine "ethische Notwendigkeit".
Sie folgern dies aus den beiden Sätzen:
"Milliarden Menschen in den ärmsten Ländern hungern"
und:
"Der Anbau des genmanipulierten Reises birgt biologisch
keine Risiken in sich".
Was sie nicht sagen ist, daß es nach dem heutigen Wissensstand
nicht nur zahlreiche soziale, politische, ökonomische,
ästhetische
und religiöse Gründe gegen diese Genmanipulation gibt,
sondern auch experimentell-naturwissenschaftlich
nicht faßbare biologische Zusammenhänge und Folgeerscheinungen.
Das gleiche gilt für die Kerntechnik und ihre möglichen
und tatsächlichen Folgen, von denen die Wissenschaftler
nicht gesprochen haben.
?Wie kommen "traditionelle" Naturwissenschafter
dazu,
diese Verantwortung dennoch auf sich zu nehmen, ohne
darüber zu reden, was sie alles nicht wissen und auslassen?
Das liegt zum größten Teil an dem
Bild, das sich die
klassischen Naturwissenschafter von der Welt machen.
Es basiert auf der mechanistischen Vorstellung,
daß man den Plan, nach dem die Welt gemacht ist,
verstehen wird, wenn man die konstituierenden kleinsten Teile
und Elemente
hinreichend genau analysiert hat.
Sie glauben, daß sie, gerade weil sie "auslassen"
genauer und d.h. reeller sind.
?Nun sagen Sie, daß die naturwissenschaftliche
Weltsicht sich aufgrund der Erkenntnisse, die man aus
der Quantentheorie gewonnen hat, in einem ganz
fundamentalen Punkt wandelt, nämlich der alten
philosophischen Frage nach dem Verhältnis von dem
Einen und den Vielen, oder, einfacher ausgedrückt, den
Teilen und dem Ganzen.
Ja. Interessant an den Ergebnissen der Quantentheorie
ist eigentlich,
daß wir uns von der Vorstellung verabschieden müssen,
daß es so etwas wie an sich existierende Teile überhaupt
geben könne.
Vielmehr hängt - vom Ganzen her gedacht -
das, was als Teil betrachtet wird, vom Kontext ab.
?Kann man also sagen, "alles hängt
mit allem zusammen
und was als Teil gilt, hängt vom Betrachter ab?" Und
was ist dann das Nicht-Banale an diesem Satz?
Die Schwierigkeit mit diesen scheinbar trivialen
Erkenntnissen
liegt weniger in der Begrifflichkeit als im Bezug zur
Wirklichkeit. Auch Systemtheorie, Chaostheorie usw.
sprechen von Ganzheiten und Kontexten,
aber sie bleiben reduktionistisch,
d.h. sie sehen die Teile nicht vom Ganzen her.
?Wie kann man sich dieses Ganze und seine
nichtreduktionistischen Teile oder Teilaspekte
vorstellen? Vielleicht wie eine Landschaft?
Die Landschaft kommt der Idee ziemlich nah.
Man kann die Landschaft ja auch sehr unterschiedlich betrachten:
von irgendwelchen postulierten Teilen her oder vom Ganzen.
Der Grund für so viel Streit bezüglich der Nutzung
der Natur
liegt ja gerade in diesen unterschiedlichen Herangehensweisen.
?Die alte Naturwissenschaft hat viele Erfolge
aufzuweisen. Welche Erfolge kann die neue
naturwissenschaftliche Weltsicht für sich reklamieren?
Im kleinen Kontext ist der Einfluß des
Messenden
(des Betrachters) weniger gewichtig als im Großen.
Isolierte Betrachtung und falsche Gewichtung
richten entsprechend weniger meßbaren Schaden an.
Das ist jetzt anders.
Diese isolierte Betrachtung können wir uns gar nicht mehr
leisten.
?Wie kommt es, daß diese Dinge unter Fachleuten
so schwer auf einen Nenner zu bringen sind?
Die Quantentheorie ist tatsächlich für
den gesunden
Menschenverstand leichter nachzuvollziehen als für
den klassischen Naturwissenschafter.